08.06.2021
Nachhaltigkeit
Der Versuch ein unscharfes Bild zu fokussieren
Das Wort Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Egal ob Nahrungsmittelhersteller, Bücher, Diskussionsgruppen, Autokonzerne, die Politik und eigentlich auch alle anderen in der Öffentlichkeit wirkenden Personen und Unternehmen. Die Frage dabei ist: sprechen wirklich alle vom selben Thema? Hier kommt also ein Versuch dieses unscharfe Bild der Nachhaltigkeit zu fokussieren.
Aus Magazin Nr: 163
9 min Lesezeit
Also mal ehrlich: Wer von euch benutzt das Wort Nachhaltigkeit denn nicht gerne? Einfach mal so zwischendurch beim Gespräch mit dem Nachbarn oder im Büro, wenn es darum geht, neue Ideen zu sammeln. Wenn die Nachhaltigkeit ins Spiel kommt, dann ist alles doch immer gleich noch ein bisschen besser, sinnvoller und smarter. Das hat langsam allerdings gewisse Ausmaße angenommen, sodass eigentlich niemand mehr genau sagen kann, was Nachhaltigkeit eigentlich konkret bedeutet. Wenn wir mal ein Potpourri aus allen gefühlten Begriffen aufmachen, die ein nachhaltiges Produkt zu haben scheint, dann erhalten wir etwas grünes, natürliches, lokales, vielleicht aus Holz gefertigtes, auf jeden Fall aber unverpacktes Ding, welches ohne Verbrennungsmotor, hingegen mit regenerativen Energien funktioniert und wo weder hinten noch vorn Abgase rauskommen.
Am besten es kommt gar nichts raus und bei der Herstellung wurde auch nichts gebraucht und wenn etwas gebraucht wurde, dann wurde es „upgecycelt“. „Do It Yourself“ war auch noch im Spiel. Wenn man es nicht mehr braucht oder es kaputt geht, dann hinterlässt es keine Rückstände und muss nicht umständlich entsorgt werden. Bio könnte da dran stehen, mindestens aber Öko, Fairtrade sowieso und wenn es richtig gut kommt, dann ist es auch noch vegan.
Wenn wir von „nachhaltigen“ Produkten Abstand nehmen und eine „nachhaltige“ Lebensweise plakativ darstellen, dann ist da jemand, der mit dem Fahrrad fährt und nur ganz selten sein E-Auto benutzt, im Bioladen einkaufen geht, dort aber nur das besorgt, was er selber nicht anbauen kann, der wenig fliegt, Second-Hand-Sachen oder wenigstens Fair Trade Kleidung trägt, wenig und bewusst konsumiert, viel mit anderen teilt und einfach versucht seinen CO2-Abdruck so gering wie möglich zu halten. Zugespitzt ärgert sich dieser Jemand über jedes Blatt Druckerpapier, das er benutzen muss. Und natürlich kann „er“ ebensogut eine „sie“ sein oder gar „divers“ daherkommen.
Das klingt in Summe alles nicht nach einem entspannten Leben und eigentlich auch nicht wirklich nachhaltig. In meiner Masterarbeit zum Thema Lastenfahrrad Verleihsysteme musste ich mit vielen dieser Klischees um das Thema Nachhaltigkeit umgehen und habe mich sehr ausführlich mit der Konturlosigkeit des Begriffs insgesamt beschäftigt. Wissenschaftlich betrachtet ist der Begriff Nachhaltigkeit auch noch längst nicht gefestigt. Denken wir im Konzept einer Black Box (also einer mehrfach untersuchten und anerkannten Tatsache) ist die Nachhaltigkeit nur eines: umstritten.
Unbestritten liegen die Wurzeln allerdings bei Carl von Carlowitz, seines Zeichens Oberberghauptmann im Erzgebirge von 1711 bis 1714. Seine Idee, nur so viel Bäume abholzen, wie auch nachwachsen können, gilt als Leitmotiv der Nachhaltigkeit. Daraus entstand dann im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung der Grundgedanke, dass alle derzeit verfügbaren Ressourcen nur soweit aufgebraucht werden können, dass zukünftige Generationen nicht schlechter dastehen dürfen, als eben die aktuelle. Klar denken wir beim Thema Ressourcen zuerst an Öl, Holz, Kohle und so weiter. Aber natürlich ist das viel zu kurz gedacht.
Damit klar wird, welche Faktoren bei der Nachhaltigkeits-Betrachtung eine Rolle spielen, entstanden die Dimensionen der Nachhaltigkeit. Seit 1998 bestehen die drei Dimensionen: Ökologie, Soziales und Ökonomie. Damit lässt sich die plastische Einordnung (nachhaltig oder nicht) schon wirklich weit vorantreiben. Aber auch die drei Begriffe Ökologie, Soziales und Ökonomie sind natürlich wahre Bedeutungs Kolosse und daher viel diskutiert, oft definiert und unterschiedlich gedeutet. Es gibt noch weitere Dimension, die einbezogen werden können. Oft angeführt wird zum Beispiel das Themenfeld der Kultur. Ein besonderes Augenmerk wird aber auch auf die Gewichtung der drei Dimensionen gelegt und natürlich der Frage danach, ob ein Ausgleich stattfinden kann. Darf man also eine Ressource mehr ausschöpfen, wenn man eine andere dafür schont?
Nun stecken wir schon mitten in einer sehr anstrengenden Diskussion. Die abstrakte Ebene, auf der solche Debatten geführt werden, haben mit der Realität oft nichts mehr zu tun. Wenn ich versuche mir nur ein Produkt danach auszusuchen, ob es nachhaltig ist oder nicht, werde ich garantiert verrückt. So viele Aspekte gilt es zu bedenken, so viel zu recherchieren und zu überprüfen, ob die Angaben überhaupt alle korrekt sind. Viele Unternehmen waschen sich grün (das sogenannte „Greenwashing“), indem sie irgendwo angeben, dass sie garantiert nachhaltig sind. Vom Tetrapack bis zum großen Autokonzern sind sie alle nachhaltig und das zum großen Teil genauso schwammig, wie der Begriff es eben hergibt. Es wirkt immer wie eine Mischung aus Freikaufen und beflügelten Marketing Streichen.
Ein Werk, welches Nachhaltigkeit besonders anschaulich und klar darstellt, kommt von Iris Pufè, die in ihrem Buch „Nachhaltigkeit“ eine sehr treffende Darstellung liefert. Damit leistet sie eine wirklich gute Zusammenstellung aller möglichen Aspekte und Erklärungen um das Thema Nachhaltigkeit. Am Ende kommt sie auf eine Formel, die eigentlich einfach, verständlich und anwendbar ist:
Nachhaltigkeit = Umwelt + Entwicklung.
Schöne Formel, aber was soll das konkret bedeuten? Die Formel von Iris Pufè erweitert das Thema um eine wichtige Ebene, nämlich die zeitliche Dimension. Nachhaltigkeit allein drückt nur den aktuellen Zustand aus. Also im Grunde das aktuelle Ganze. Zieht man aber die Entwicklung hinzu, ergibt sich dadurch eben der Bezug über den Moment hinaus zu dem, was noch kommen wird.
Ein kleines Beispiel: Durch die Corona Krise wurden für den Moment viele Milliarden Tonnen CO2 gespart. Für den Augenblick also erstmal „nachhaltig“ (vor allem im Bezug auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit). Aber über den Moment hinaus hat es keine nachhaltige Entwicklung gegeben. Ist die Krise vorbei, geht alles weiter wie zuvor: Kreuzfahrten, Handyproduktion, Berufsverkehr und so weiter. Vielleicht sogar noch schlimmer, aus Angst es wieder zu verlieren und durch die gehäufte Nachholung der Aktivitäten.
Beschäftigen wir uns nun mit der nachhaltigen Mobilität. Das sollte doch schon viel greifbarer sein, oder? Fahrradfahren ist nachhaltig, Autofahren nicht. E-Autos sind besser als solche mit Verbrennungsmotoren. Carsharing führt zu einer Entlastung des Verkehrs in den Städten. Nach einigen weiteren Definitionsversuchen und Recherchen kommt man jedoch zu der Erkenntnis, dass zu jedem gefühlten Fakt eine bittere Wahrheit existiert. Zum Beispiel diese: Carsharing bringt mehr Verkehr in die Städte. Und noch viel schlimmer, die Autokonzerne nutzen Carsharing als Vertriebsweg und zu Marketingzwecken.
Nachdem nun alle möglichen Definitionen niedergeschrieben waren, man dadurch aber auch nicht schlauer war, ging mir doch noch ein Licht auf: Vielleicht ist es viel wichtiger das Problem als solches zu benennen. Im Kontext der nachhaltigen Mobilität liegt für mich deswegen die Crux in der Hypermobilität der westlichen Gesellschaft. Robert Schönduwe untersuchte genau das in seiner Arbeit „Mobilitätsbiographien hoch mobiler Menschen“ und weist eben auf die Entgrenzung der Lebensführung und der Arbeitswelt hin. Die schier unendlichen technischen Möglichkeiten in Verbindung mit sozialem Druck führen dazu, dass sich Menschen pausenlos fortbewegen. Sowohl in der Freizeit, als auch im Büro gelingt es, den sozialen Status durch ausufernde Mobilität zu festigen und auszubauen. Klar, was klingt interessanter: Radurlaub in Island oder Radurlaub in der Soester Börde? Und wir reden dabei nicht mal nur vom Urlaub: Wohnen in Hamburg – arbeiten in Berlin, wöchentliches Pendeln von Stuttgart nach München, für ein Konzert mal eben nach London und so weiter.
Wenn wir ehrlich sind, fällt es uns einfach schwer an einem Ort zu bleiben. Sicher lässt sich der Schwarze Peter nun auch noch auf die Sozialen Medien schieben. Auch dort sehen wir ständig Menschen, die ferne Abenteuer erleben, fremde Kulturen kennenlernen, oder sich zumindest nicht die Finger beim Radfahren im kalten Deutschland abfrieren, sondern einfach mal eben nach Mallorca fliegen.
Nun sind wir richtig tief im Argumentations-Sumpf. Reisen ist doch wichtig und toll, und es bildet doch auch noch! Sind wir auf der Welt, um so wenig Schaden wie möglich anzurichten oder um soviel Spaß wie möglich zu haben? Geht Nachhaltigkeit denn überhaupt? Mit drei Kindern kein Auto zu haben, der Job ist 50 Kilometer entfernt, wie soll das funktionieren? Die aktuellen Trends der Entschleunigung, des Minimalismus und der Achtsamkeit passen oft nur in das eigene Wohnzimmer – zum Vorzeigen bei anderen. Alles drum herum ist voll, schnell und unbedacht. Also alles, aber halt nicht wirklich nachhaltig.
So vielfältig die Definitionen und Argumentationen um das Thema Nachhaltigkeit sind, so individuell wird es eben auch gelebt. Darum gilt für uns: Jede(r), der sich mit dem Thema auseinandersetzt und auch nur zu einem kleinen Teil einen Beitrag leistet, ist wichtig. Jede(r) der das Gefühl hat, ständig auf Achse zu sein, aber nie anzukommen, sollte überlegen, warum das so ist. Dieser Grundsatz sollte laut unserem Verständnis von Nachhaltigkeit für alles gelten. Alle Menschen haben Bedürfnisse, aber nicht alle müssen ständig und sofort befriedigt werden. Wir leben und agieren nicht in einem luftleeren Raum, sondern wegen und mit allen anderen. Der ständige innere Konflikt über die Bratwurst an der Metzgertheke oder das Benzin an der Zapfsäule bringt überhaupt nichts, genauso wenig wie Vorwürfe. Aber auch blinder Aktionismus bringt keine Nachhaltigkeit, dabei kommen allenfalls E-Autos heraus. Wenn ich selbst eine Formel für Nachhaltigkeit aufstellen sollte, dann würde diese deswegen vermutlich auch so aussehen:
Nachhaltigkeit = Ich + Wir.
Aber das reicht natürlich noch lange nicht aus. Wenn jeder Nachhaltigkeit nur als Einschränkung und nicht als Gewinn versteht, kommen wir auch auf keinen grünen Zweig. Das heißt: umdenken, neu denken und Spaß daran haben. Das Ziel muss es sein, den zukünftigen Generationen nichts wegzunehmen, sondern mindestens die aktuellen Ressourcen zu bewahren. Fast lässt sich einfach die goldene Regel, die jedes Kind kennt, anwenden: “Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.”
Anders gesagt: Was du gern hast und auch in Zukunft gern hättest, das versuche mit allen Mitteln zu bewahren. Auch wenn es sich erstmal einschränkend anfühlt, muss es das noch lange nicht auf Dauer sein. Umdenken heißt neu denken. Diese Aufgabe ist für deine, meine und die Zukunft kommender Generationen von enormer Bedeutung!